Harmonisierung

Geschafft. Wir werden besser. Schnell ist alles zusammengepackt, das Dachzelt abgebaut und wir fahren los. Eigentlich nach Coimbra, alte Unistadt, aber zuviel Programm für den Tag. Also direkt nach Obidos, immerhin machen wir ja keine Portugalreise, sondern hören die Exotik rufen. Es liegt auf dem Weg nach Lisboa.
Ich bin entsetzt über die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Das ehemalige „Armenhaus“ scheint zur Vorzeigenation generiert. Autopisten, Industriegebiete, Autopisten, Industriebrachen, Umgehungsstrassen, Autohäuser. Nostalgisch verklärt empfinde ich nur noch Abscheu, das ist also Europa, Alles für Alle und überall gleich. Zugegegeben, es wäre naiv und vermessen, den Portugiesen das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung zu versagen, aber die Erinnerung an diese zauberhafte Beschaulichkeit ist dahin, verdammt, ich bin auf Reise in einem meiner ehemaligen Lieblingsländer, wo ich Sardinen, kartoffelsuppe und Hauswein für nen Appel und nen Ei bekam. Und Langsamkeit. Bald gibts überall DM, H&M, Hellweg und Aldi, LIDL hats schon geschafft. Und Media-Markt. Siehe oben. Na klar, ich arrogantes Arschloch, satt und überdrüssig, verlange nationale Kontemplation zum Amüsement meines konsumverzerrten Ego. Vielleicht sollte ich es doch mit Yoga versuchen.

Obidos ist genauso hübsch, so zauberhaft pittoresk ( da ist er, der dämliche Reiseführer-Begriff, Hilfe, ich habe ihn benutzt ),also cozy. Mein Gott, wie schön. Damals war ich fast allein, teilte mir ein Zimmer mit einem Kerl aus Nippon bei Senora. Jetzt sind Busladungen voller 45 Minuten-Touristen in den engen Gassen. Jedes Haus verkauft die gleiche Scheisse, Ginja und Schokolade. Oh Herr, lass mich gelassen sein. Der alte Bahnhof, an dem ich seinerzeit mit meinem Rucksack ankam ist verwaist. Dafür gibt es kostenpflichtige Parkplätze. Dort haben sie in ihrem Betonier-Wahn den Rest des Landes versiegelt. Aber es ist noch immer zauberhaft, wenn man in den Nebengassen oder auf der Festungsmauer herumläuft. Die Bewohner sind längst abgehauen in die hübschen Reihenhaussiedlungen, downtown, die so ein irrer, in analer Phase verharrender portugiesischer Stararchitekt über das ganze Land verteilt. Dort passen vermutlich die 180 Zoll LED Kisten besser rein. Genug !
Die 80 km bis Lissabon sind schnell erledigt, wir beziehen unser pittoreskes, cozy Appartment im 4 Stock eines pittoresken Wohnhauses, im pittoresken Wohngebiet westlich des Zentrums. Wir haben Kohldmapf, aber das Gebiet keine Restaurants, doch, im Labyrinth des Auf- und Ab werden wir alternativlos ansichtig eines durchaus hübschen Lokals. Netter Empfang. Nette Karte, nette Atmosphäre. Die Karte verdichtet sich auf zwei erhältliche Gerichte. Wir entscheiden uns für das Falsche. Es ist wahrscheinlich ne „Versteckte-Kamera-Nummer“. Wir bekommen Thunfisch Steaks, ersoffen in Essig, und gesüssten, unahnsehnlichen Kartoffel Matsch. Ich denke unwillkürlich an Eier färben und Schimmel-Entfernen, an Fieber und Wadenwickel. Die ganze Restaurant-Ecke stinkt zur Decke, die Rauchmelder fangen an zu blinken. Vermutlich hocken sie gerade in der Küche, liegen sich tränenüberströmt und schenkelklopfend in den Armen, da zwei Volldeppen aus Alemania diese unglaubliche Scheisse wirklich fressen. Der Vino da casa neutralisiert nur gebückt diesen Unfall portugiesischer Voll-Verarsche. Zur Belohnung darf ich drinnen rauchen, habe jedoch Angst, dass der Laden in die Luft fliegt. In Ermangelung notfallmedizinischer Betreuung geben wir uns den Selbstheilungskräften in Form eines gediegenen Schlafes hin. Ich denke beim Einschlafen an den Stararchitekten. Vermutlich ist er seit langem Stammgast dort.
Hurra, wir leben noch. Auf in die Metropole. Grandios. Nach meinen bisherigen Erlebnissen bin ich skeptisch, haben sie Disneyland aus der Stadt gemacht ? Oder Las-Vegas ? Oder Berlin-Mitte ? Nein, in Ruhe gelassen haben sie den Moloch. Er trotzt den Entwicklungen. Es wird wohl kräftig renoviert, eben kein Platz für Reihenhaus-Siedlungen! Wunderbar. Einzig die Hauptgasse der Baixa prostituiert sich als Fressmeile mit diesen unsäglichen Foto-Speisekarten, die der Halbbruder des Stararchitekten entworfen haben muss. Oder in Antalya geklaut. Pommes-Pizza und Kabeljau-Döner. Doch die Atmosphäre ist wunderbar gelassen und ruhig. Wir hocken uns an den Tejo. In der Ferne majestiert die Brücke im gleissenden Nachmittagslicht. Ein Zotteliger spielt flamencoeskes. Die Stadt ist wirklich schön. Wir speisen vorzüglich, nachdem wir mit dem Elevador in die Bairro Alto hochgefahren sind. Schön müde erreichen wir noch früh am Abend unsere Bleibe. Sollen die Anderen das Nightlife erleben.
Wir werden den Sonntag noch hier beim bestem Wetter verbringen und fahren dann nach Tarifa, um von dort überzusetzen, falls die Karre bis dahin nicht geklaut wird.

3 Gedanken zu „Harmonisierung“

  1. Hallo Ihr Lieben, ganz herzliche Grüsse aus der Heimat (Ruhrpott) .Interessiert verfolgen wir perAtlas Eure Reiseroute und lesen gern die ausführlichen, anüsanten Reiseberichte. Dass es Euch gut geht, zeigen die netten Schnappschüsse verschiedener Stationen und Positionen.
    Weiterhin viele Erlebnisse und gutes Weiterkommen mit der hoffentlich verlässlichen Fortbewegungs-Lady.

    Ganz liebe Grüsse und ganz feste Umarmung,
    von uns Beiden

    1. Hallo Ihr Lieben, herzliche Grüsse aus der Heimat (Ruhrpott)
      Interessiert verfolgen wir per Atlas Eure Reiseroute und lesen gern die ausführlichen, amüsanten Reiseberichte. Dass es Euch gut geht, zeigen die netten Schnappschüsse verschiedener Stationen und Positionen.
      Weiterhin viele Erlebisse und gutes Weiterkommen mit der hoffentlich, verlässlichen Fortbewegungs-Lady.

      Seid feste umarmt und gegrüsst
      uns Beiden

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